Kortison in der Schulter
Drohen durch den etablierten Schmerzkiller mehr Gefahren als er am Ende nutzt?
Sage und schreibe 541 Million Dosen systematisches Kortison wurden allein in Deutschland im Jahr 2019 verordnet. Die Gabe oraler Kortikosteroide zielt häufig auf die Bekämpfung von Autoimmunerkrankungen an, während sich gezielte Injektionen (vor allem in Sehnen und Gelenke) in der Orthopädie als Mittel zur Schmerzbekämpfung etabliert haben. Obwohl eine Entzündung nicht im Mittelpunkt des Krankheitsgeschehens einer Tendinopathie zu liegen scheint, erweisen sich Kortison-Injektionen oft als kurzfristig wirksam gegen Schmerzen. Langfristig gesehen wird der Nutzen allerdings vermehrt infrage gestellt, zumal die Nebenwirkungen von Kortison sowohl lokal als auch systemisch erheblichen Schaden verursachen können. Befindet sich zu viel des Stresshormons Kortisol im Körper, führt es schlimmstenfalls zum gefürchteten Cushing-Syndrom. Die katabolen Eigenschaften des Hormons verursachen hierbei unter anderem eine verzögerte Wundheilung, Ödeme und führen manchmal sogar zu einem Steroiddiabetes. Bereits veröffentlichte Fallstudien legen den Gedanken nahe, dass eine gezielte Kortisongabe in Sehnengewebe zu einer Schädigung führen könnte. Allerdings gab es bisher noch wenige groß angelegte Untersuchungen, die einen klaren Zusammenhang von Kortison-Injektionen und Sehnenrupturen zeigen konnte.

20.000 Datensätze für mehr Gewissheit
Tilman Garthe, Louis Jacob und Karel Kostev von der Goethe-Universität Frankfurt am Main untersuchten in einer retrospektiven Fall-Kontroll-Studie die Daten von 1,9 Millionen Personen, die in den Jahren 2017 bis 2019 eine von 184 teilnehmenden deutschen Orthopädiepraxen besuchten. In diesem Datensatz versteckten sich insgesamt 10.986 PatientInnen mit einem nicht-traumatischen Rotatorenmanschettenanriss oder -abriss. Als Vergleich diente eine auf Alter, Geschlecht und weitere Erkrankungen angeglichene Gruppe, die mittels eines Computerprogramms ebenfalls aus dem Datensatz gefiltert wurde.

Die Ergebnisse bestätigen die Annahme, dass eine Verabreichung von Kortison ein Risikofaktor für Rotatorenmanschettenrupturen sein könnte. Sowohl PatientInnen, die orale Kortison-Präparate zu sich nahmen, als auch PatientInnen die Kortison-Injektionen erhielten, wiesen ein erhöhtes Risiko für Sehnenrupturen auf. 7,3 Prozent der Personen mit Rotatorenmanschettenrupturen hatten in ihrem Leben bereits eine orale Gabe von Kortikosteroiden erhalten, wohingegen nur bei 4,4 Prozent der Personen mit intakter Rotatorenmanschette eine Einnahme von Kortison dokumentiert wurde, was einem Odds-Ratio von 1,71 entspricht. Besonders ins Auge fiel hier der Wirkstoff Prednisolon: 6,4 Prozent der Personen mit beschädigter Rotatorenmanschetten erhielten den Wirkstoff. Damit war das Risiko doppelt so hoch wie bei der Kontrollgruppe, bei der lediglich 3,2 Prozent das Medikament erhielten. Die Wirkstoffe Methylprednisolone und Prednison zeigten hingegen bei oraler Gabe keine statistisch signifikante Korrelation.

Auch Injektionen mit Kortison waren positiv mit Defekten der Rotatorenmanschette assoziiert. Neun Prozent der PatientInnen mit Rotatorenmanschettenrupturen erhielten eine Injektion mit dem Steroid wohingegen in der Vergleichsgruppe nur 6,5 Prozent die Spritze erhielten. Das Odds Ratio betrug 1,42. Auch hier zeigte sich der Wirkstoff Prednisolon mit einem Verhältnis von 2,0 in der Erkrankten zu 1,2 in der nicht-erkrankten Gruppe und einem Odds Ratio von 1,63 am meisten assoziiert.

Ob auch nicht steroidale Antirheumatika (NSAR, wie Ibuprofen, Diclofenac etc.) Verursacher von Rotatorenmanschettenrupturen sein könnten, konnte in den Daten ebenfalls überprüft werden. Das Ergebnis ist eindeutig: Bei 27,9 Prozent der Personen mit und 27,7 ohne ein
e Ruptur fanden sich NSAR in der Dokumentation. Ein Zusammenhang konnte damit ziemlich sicher ausgeschlossen werden.

Wegweisend für die Zukunft?
Die Forscher fühlen sich in ihrer Annahme bestätigt. Die Gabe von Kortison, egal ob als Injektion oder als Tablette, erhöht das Risiko für Rotatorenmanschettenrupturen. Die Ergebnisse decken sich mit denen vorheriger Studien. Was die Wirkstoffe angeht, interpretieren die Forscher die Daten sogar pessimistischer als sie sich in der Studie darstellen. Da 76 Prozent der betroffenen ProbandInnen Prednisolon erhielten könnte es sein, dass der Datensatz zu den anderen Wirkstoffen zu klein ist, um ein signifikantes Ergebnis zu erhalten. Sie verweisen hier auf Studien (z. B. diese und diese), die sehnenschädigende Eigenschaften von Methylprednisolon beschreiben.

„Bedenkt man die Annahme, dass Tendinopathien eine nicht-inflammatorische Pathophysiologie besitzen, die von einer gestörten Heilung charakterisiert ist, ist die Gabe von Kortison als ein entzündungshemmendes Medikament bedenklich“, so die Forscher. Sie verweisen auf ein kürzlich erschienenes Review von Puzzitiello et al.Dieses zeigt eine vermehrte Zellapoptose, eine verschlechterte Heilung und eine Abnahme der Sehnenbelastbarkeit zwei bis drei Wochen nach der Injektion mit Kortikosteroiden. Diese Information ist für PhysiotherapeutInnen wichtig! Obwohl sich die Datenlage über die schädigenden Nebenwirkungen von Kortison weiter erhärtet, ist diese in vielen Orthopädiepraxen das Mittel der Wahl, um kurzfristig Schulterbeschwerden zu begegnen. Sollten diese PatientInnen anschließend eine Verordnung für Physiotherapie erhalten, ist von Belastungen der Rotatorenmanschette in diesem Zeitraum wahrscheinlich eher abzuraten.


Quelle: Daniel Bombien / physio.de
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